Die Unglückseligen by Dorn Thea

Die Unglückseligen by Dorn Thea

Autor:Dorn, Thea
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: d-Knaus
veröffentlicht: 2016-02-18T20:13:39+00:00


XIII

Noch ein letzter, schwerer Glockenschlag, dann setzte die Orgel mit ihrem depressiven Gepfeife ein. Anfangs war es nicht mehr als ein verlegenes Brummen, was die versammelte Trauergemeinde zustande brachte, doch bald sang alles aus voller Kehle.

«Wir sind nur Gast auf Erden

Und wandern ohne Ruh’

Mit mancherlei Beschwerden

Der ewigen Heimat zu.»

Stumm starrte Johanna auf das Gotteslob, das sie ungeöffnet, schwarz und klebrig in ihren Händen hielt. Warum hatte sie sich vorhin am Eingang überhaupt eins von diesen Liederbüchern andrehen lassen? Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir. Johanna hätte schwören mögen, dass sie das Lied aus jener Zeit kannte, als sie mit ihrer Großmutter jeden Sonntag zum evangelischen Gottesdienst hatte gehen müssen.

«Die Wege sind verlassen,

Und oft sind wir allein.

In diesen grauen Gassen

Will niemand bei uns sein.»

Seit sie den Konfirmandenunterricht abgebrochen und beschlossen hatte, den Tod zu bekämpfen, anstatt ihn sich schön zu lügen, hatte Johanna Kirchen allenfalls noch aus touristischem Interesse betreten. Und eine Beerdigung hatte sie überhaupt noch nie besucht. Als ihre Großväter gestorben waren, war sie zu klein gewesen, um auf den Friedhof mitgenommen zu werden. Als ihre Großmütter gestorben waren, war sie zu groß gewesen, um nicht zu erkennen, wie abstoßend solche Todesparaden waren, und beiden Beerdigungen trotz des Gezeters ihrer Eltern ferngeblieben. Seither war kein Mensch gestorben, dem sie sich verbunden genug gefühlt hätte, um ihm die «letzte Ehre» zu erweisen.

«Nur einer gibt Geleite,

Das ist der Herre Christ;

Er wandert treu zur Seite,

Wenn alles uns vergisst.»

Wie viele Strophen dieses verdammte Lied haben mochte? Johanna überwand ihren Ekel und schlug das Buch mit dem speckigen Plastikeinband nun doch auf. Aus ihrer kurzen Kirchenbankvergangenheit wusste sie, dass der Christ, wenn er erst einmal ins Singen gekommen war, so schnell nicht wieder aufhörte. Schon als Mädchen wäre sie am liebsten im Boden versunken, wenn die Großmutter neben ihr ebenso inbrünstig wie ausdauernd zum Altar geschmettert hatte. Aber vielleicht war diese Endlos-Singerei ja auch eine spezifisch protestantische Macke. Johanna wollte es hoffen.

«Gar manche Wege führen

Aus dieser Welt hinaus.

O, dass wir nicht verlieren

Den Weg zum Vaterhaus.»

Erleichtert stellte Johanna fest, dass die letzte Strophe nahte. Ihre Füße, die sie heute Morgen in die hochhackigsten schwarzen Stiefel gezwängt hatte, die ihr Schuhschrank hergab, taten jetzt schon weh. Dennoch wagte sie es nicht, sich als Einzige zu setzen. Der da vorn, hörte sie eine spöttische Stimme in ihrem Kopf sagen, hat einen halben Tag am Kreuze ausgeharrt, da wirst du wohl ein Stündlein in unbequemen Schuhen ertragen.

«Und sind wir einmal müde,

Dann stell ein Licht uns aus,

O Gott, in deiner Güte;

dann finden wir nach Haus.»

Der Gesang und die Orgel verstummten, doch Johanna musste erkennen, dass der Moment, an dem sie sich endlich setzen durfte, noch immer nicht gekommen war. Der Pfarrer, der plötzlich eine Glatze offenbarte – als Johanna das letzte Mal zu ihm hingeschaut hatte, hatte er noch eine Kappe aus schwarzem Satin aufgehabt, die sie an jene Schachtel erinnerte, in der man ihr in dem teuren Pariser Dessousladen den seidenen Morgenmantel verpackt hatte –, bekreuzigte sich mit schwingenden Ärmeln. «Im



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